Pflanze des Monats Juni
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Das Gefleckte Knabenkraut
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„Blühende Landschaften“ auf altem Truppenübungsplatz
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Auszug aus meinem Tagebuch bei der Bundeswehr vor 50 Jahren:
„Nieselregen; nasse Nebelfetzen jagen über das kalte, feuchte
Land. Ein steifer Westwind zerrauft das graue, hilflose Gebüsch:
In Südniedersachsen dämmert es an einem trüben, kaltnassen
Herbstabend. Schmutziges Wasser und braunsandiger Schlamm umspülen
den frostkalten Stahl unseres Panzers, der sich als öliger, graugrüner,
brummender Koloss in eine schmierige Lehmmulde duckt. Fremde Erde,
fremde Menschen – kein Wort. Nur das peitschende Pfeifen des Sturmes
über uns. Trostlos die Natur, hoffnungslos und verloren Mensch und
Tier….Da, ein Ruck, ein leichter Schlag gegen die Schläfe: Unser
Panzer fährt weiter und reißt uns aus allen unseren Erinnerungen.
Schwer quetscht sich der dicke Schlamm durch das Laufwerk, und vom
pechschwarzen Himmel regnet es hämmernd durch die Luken in unseren
Turm. Kalter Stahl und nasser Regen, dröhnender Motor und stinkendes
Dieselöl: Es ist scheußlich ! Stürmischer Zugwind fährt durch die
nasse, grobe Kleidung, und schwer liegt der Kopfhörer auf dem
schmerzenden Schädel. Hart klingen die monotonen Kommandos, und
während der schwere Panzerkoloss über Gräben und Hügel kippt und
schaukelt, beginnt es sich auch bei uns in Kopf und Magen zu drehen.
Es folgte ein langer, nass-nebeliger, matschiger, öder, grau-steinerner
Göttinger Winter“…
Ein halbes Jahrhundert später sind das alles nur noch dunkle, unerfreuliche
Erinnerungen. Heute steige ich an einem warmen trockenen Sommertag bei
herrlichem Sonnenschein von Herberhausen aus den Berg hinauf erneut in
den Göttinger Wald zum alten Truppenübungsplatz auf dem „Kerstlingeröder
Feld“. Der Anblick verschlägt mir die Sprache ! Ein in der Sonne violett
glänzendes Blütenmeer umfängt mich. Es ist unglaublich !
Träume ich ? Bin ich im Paradies ? Keine Kälte, keine Nässe, kein Schlamm mehr !
Tief einatmen, satt sehen, dankbar bewundern ! Das ist der Augenblick, von dem
Goethe sagte: „Verweile doch, du bist so schön !“
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Foto J. Hartmann
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Von 1928 bis 1992 gab es oberhalb von Göttingen mitten in einem
Waldgebiet einen Truppenübungsplatz bzw. ein Manöver-Gelände, auch für
Panzerfahrzeuge ("Kerstlingeröder Feld"). Nach Einstellung des
militärischen Übungsbetriebs unterlagen die Freiflächen der natürlichen
Sukzession, wobei sich vom Waldrand her auch lichtliebende Orchideen
auf den für sie passenden Kalkböden einstellten. Durch geeignete
Pflegemaßnahmen (Entbuschung) wurde die Wiederbewaldung aufgehalten, so
dass heute ein unglaubliches Orchideen-Paradies zu bewundern ist:
Michail Gorbatschows Vermächtnis, Helmut Kohls „blühende Landschaften“
und Loki Schmidts Lebenswerk ! Die Orchideen-Aufnahmen wurde im Sommer
2013von mir gemacht, und sie sind wohl einmalig. Eine einzelne Orchidee
ist schon etwas Seltenes, Tausende auf kleinstem Raum sind ein Wunder
der Schöpfung, und das Ganze noch auf einem ehemaligen
Truppenübungsplatz ist ein spätes Geschenk der damals politisch
Verantwortlichen, das wir dankbar betrachten und bestaunen sollten. Die
häufigste Orchidee, die vor allem für das hellviolette Blütenmeer
verantwortlich ist, ist das Gefleckte Knabenkraut (Dactylorhiza
fuchsii). Sie blüht als eine der letzten Arten im Orchideen-Frühling.
Daneben mischt sich auch die Grünliche Waldhyazinthe (Platanthera
chlorantha) in das Blütenmeer.
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Foto J. Hartmann
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Im Jahr 2000 wurde das Kerstlingeröderfeld an die Stadt Göttingen
verkauft und ist heute eines der wichtigsten Bestandteile das
Europäischen Naturschutzgebietes „Natura 2000“. Hier hat sich eine
Landschaft erhalten, wie sie vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert
für den Raum Göttingen typisch war, heute aber kaum noch irgendwo zu
finden ist: Mähwiesen, Trockenrasen, Halboffenland mit viel Gebüsch und
uralten und zum Teil absterbenden Bäumen, Obstwiesen mit alten
Apfelsorten, Quellsumpf und Pfuhl und urwaldähnliche Waldstücke mit
über 180-jährigen Laubbäumen. Auch mittelalterliche Kulturpflanzen
haben sich an ein paar Stellen erhalten, so z.B. die Erdkastanie. In
dieser Landschaft leben über 1.000 Tierarten, davon allein über 600
Schmetterlinge, wie Insektenkundler der Universität festgestellt haben!
Der u.a. hier lebende „Große Eisvogel“ ist der größte Schmetterling
Europas und in Deutschland ansonsten ausgestorben. Von den 53
nachgewiesenen Vogelarten sind zum Beispiel Neuntöter, Wendehals und
weitere fünf Arten auf der Roten Liste. Heute erholen sich immer mehr
Göttinger auf den Wegen und stillen Winkeln dieser bezaubernden
Landschaft. Alljährlich freue ich mich jetzt auf das kommende Frühjahr,
wenn sich die wunderbar gepunkteten Blattrosetten des Gefleckten
Knabenkrauts durch die vertrockneten Gräser empor schieben. Mit ihnen
keimt auch meine Vorfreude auf das Blütenmeer im Sommer, wenn wieder
„neues Leben blüht aus den Ruinen“ (Schiller).
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Foto J. Hartmann
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Nachtrag zum Lebensraum militärische Übungsplätze
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Gerade die militärische Nutzung über viele Jahrzehnte führte hier zu
unbesiedelten und von öffentlichen Verkehrswegen nicht zerschnittenen
Arealen ohne intensive landwirtschaftliche Nutzung und damit frei von
starker Düngung bzw. Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln. Dies hat
besondere Lebensräume geschaffen und für viele Tier- und Pflanzenarten
Nischen eröffnet, die diese auf den Truppenübungsplätzen besetzen
konnten. So bieten beispielsweise Freiflächen auf Schießbahnen
Tierarten, die offene Gebüsch-Landschaften als Lebensraum nutzen,
optimale Lebensbedingungen. Verdichter Boden in den Panzerkettenspuren
verlangsamt die Versickerung des Wassers. Es bilden sich kleine Feucht-
und Nassbiotope, die sich schnell erwärmen. Und in Betonritzen und
Schotterflächen können sich wie an felsigen Steilhängen kleine
trockenheits- und hitzeresistente Arten ansiedeln, wie z.B. der
Mauerpfeffer, der Gefranste Enzian oder der Natternkopf.
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Foto J. Hartmann
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Statt um
einen geplanten Golfplatz können wir heute auf einem wunderschönen
Kerstlingeröder Feld wandern, wo wir nach Schätzungen des
Arbeitskreises Heimische Orchideen Göttingen „mit inzwischen ca. 30 000
Exemplaren vom Gefleckten Knabenkraut auf kleinem Raum die
wahrscheinlich größte Orchideendichte in Deutschland bewundern können
(anfangs waren es nur 450 Stück!)“.
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Zur besseren Orientierung haben wir Ihnen 3 Karten hinzugefügt.
Kerstlingeröder Feld ist jeweils mit einem roten Kreis auf den Karten gekennzeichnet.
Karte 1
Karte 2
Karte 3
 Quelle OpenStreetMap
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